Ein kosmisches Märchen
Vor vielen, vielen Halbwertszeiten und einigen Dipol-Momenten hatten 
Sal-Peters Eltern eine einsame Farm im Asteroidengürtel auf dem 
Planetoiden Cer und züchteten Radikale. Fruchtbare Magnetfelder 
erstreckten sich um das Anwesen und ergiebige Elektronenquellen 
sprudelten über die seltenen Erden. Aus den schnurgeraden 
Elektronenbahnen sprossen Jahr für Jahr die prächtigsten Radikale und 
waren so reaktiv, dass jeder seine Freude daran hatte. Die wertvollen und
 empfindlichen Radikale wurden nach der Ernte durch ein Fixierbad 
geschützt und sorgsam auf Puffern gelagert.
Sal-Peter war noch im Kristallwachstum, als ein besonders grausames 
Radikalfänger-Pärchen , Cystein und Melanine, die Farm überfiel. Sie 
neutralisierten die elektronische Abschirmung, überwanden die schützende
 Doppelschicht, zerbrachen die gußeisernen Muffen und Klammern an allen 
Einschlussverbindungen und transportierten die Radikale in Spin-Fallen 
ab. Ein zur Hilfe gekommener Ionenstrom kam zu spät, die Radikalfänger 
hatten die Nachweisgrenze bereits überschritten. Sal-Peters Eltern, das 
Kalium-Kation und das Nitrat-Anion, konnten nicht mehr gerettet werden -
 eine Redoxreaktion hatte ihre Ladungen neutralisiert. Sal-Peter lag im 
Wasserbad und war schon teilweise gelöst. Doch seine jugendlichen 
Bindungskräfte widerstanden noch. Er wurde von Spezialisten 
umkristallisiert, verbrachte einige Tage in der Trockenzelle und sein 
Kristallgitter war gerettet.
Die Ionen aus der Lanthaniden-Fraktion nahmen ihn wie ein Zwitter-Ion 
auf. Er wuchs bei ihnen auf, obwohl sie ihm die Mutterlauge nicht 
ersetzen konnten. Als Sal-Peter größer und älter wurde und zum 
wunderschönen Einkristall mit glänzenden Kristallflächen heranwuchs, 
erzählten sie ihm, was geschah, als er noch ein Kristallkeim war. Da 
schwor er den Radikalfängern Rache, band sie im Geiste an die Voltasche 
Säule oder steckte sie ins Glührörchen. Doch als sie eines Tages an der 
Erde vorbeikamen, wollte er, neugierig wie immer, eigentlich nur einen 
Abstecher machen und fand dabei seine künftige Frau, Dex-Trine. Sie war 
so süß anzuschauen, dass er blieb, und nicht viel später gingen sie eine 
Elektonenpaarbindung ein. Besonders morgens war er ganz verliebt, wenn 
sie neben ihm lag und die ersten Strahlen der Morgensonne keck 
polarisierte. Sie bekamen sieben Kinder: Elektro-Liese, Hydro-Liese, 
Pyro-Liese, Dia-Liese, Ana-Liese, Glyko-Liese und Solvo-Liese. Lange 
Zeit lebten sie glücklich und in Frieden. Doch Sal-Peter lehrte seine 
Töchter alles über die Radikalfänger und deren Schwächen. Jede seiner 
Töchter hatte eine besondere Kraft: Elekro-Liese besaß die 
elektromotorische Kraft; Hydro-Liese hatte die Macht über die Härte des 
Wassers; Pyro-Liese befahl den Oxidationsmitteln; Dia-Liese besaß die 
Kraft des Ionenaustausches; Glyko-Liese baute die gegnerische Stärke ab;
 Ana-Liese konnte mit dem Fällungsmittel jedes noch so große Ion 
niederschlagen und Solvo-Liese bewirkte die völlige Auflösung.
Als die Töchter alt genug waren bildeten sie eine Crack-Kolonne und 
brachen auf, um Rache zu nehmen. Die Frühlingssonne tauchte die 
Landschaft in Cassiusschen Goldpurpur, und der Himmel strahlte in seinem
 schönsten Berliner Blau, als sie durch chromgrüne Wiesen wanderten, in 
denen schon die ersten Schwefelblumen und infrarote Saccha-Rosen 
blühten. Tur-Bienen summten, Dreiwege-Hähne krähten. Küken waren gerade 
aus dem Normschliff geschlüpft, hier und da huschte ein Gasmaus durch 
das Gras.
Sie hatten Bologneser Tränen in den Augen, als sie den Ionenkanal 
betraten, der sie unbemerkt zur Schattenseite des Merkur brachte. Dort 
bewohnten die Radikalfänger das Orbi-Tal, doch bis dahin war es noch 
weit. Auf gefrorenem Eisessig überquerten sie den Diffusionsstrom 
trockenen Fußes. Eine Halbwertszeit später erreichten sie das Poly-Meer 
und setzten in Wägeschiffchen über. Immer wieder tauchten 
Trockeneisberge im Ammoniumchlorid-Nebel auf, doch dank ihrer 
Ionenbeweglichkeit wichen sie immer rechtzeitig aus.
Sie atmeten auf, als die Küste im Nebel erschien, blieben jedoch im 
Mega-Watt stecken und wateten stundenlang durch den Anodenschlamm, aus 
dem Schwefelwasserstoffblasen aufstiegen. Erleichtert spürten sie 
Stunden später festen Arsen-Kies unter den Kontaktschuhen, doch mieden 
sie jede direkte Berührung mit dem giftigen Boden. Am nächsten Tag 
überquerten sie eine heiße, trockene Knotenfläche, die in ultraviolettes
 Licht getaucht war; verdorrte Quadratwurzeln ragten hier und da aus dem
 Boden und nur die mitgebrachten Liebigkühler brachten etwas Linderung 
und verhinderten, dass sie in Siedeverzug kamen. Ihre Enttäuschung war 
groß, als der erste See, den sie erreichten, nur ungenießbares 
Bromwasser enthielt. Doch sie wussten Rat: einige Tropfen Flußmittel 
ließen zu ihren Füßen eine Elektronenquelle sprudeln, aus der 
entionisiertes Wasser floss und aus der sie tranken, bis sie gesättigt 
waren. Dann ging es hinab ins Ace-Tal. Aetherische Öle machten das Atmen 
beschwerlich und ihre Wanderungsgeschwindigkeit nahm ab. Da gab 
Sal-Peter allen einen kleinen Schluck Laufmittel und sie gelangten 
schnell und ohne Pause bis zur Erfassungsgrenze, die hinter dem Tal 
verlief. Nun wussten sie, dass der Wechsel-Strom nahe war. Wenige 
Amperestunden später sahen sie die ersten Tang-Enten auf dem 
oszillierenden Strom. Darunter verbargen sich die heimtückisch 
wirbelnden Magnetfische, die alles auflösten, was in den Fluss 
eintauchte. Und wieder wussten sie Rat: Aus dem am Ufer liegenden 
Schwefelkies bauten sie in aller Eile eine Disulfidbrücke, auf der sie 
sicher zum anderen Ufer gelangten. Jetzt galt es der Fehlerquelle aus 
dem Weg zu gehen. Sie hatte die Eigenschaft, jene, die aus ihr tranken, 
alles falsch machen zu lassen. Sal-Peter und seine Töchter aber hatten 
aus der letzten Quelle genug Kristallwasser in Woulfe-Flaschen 
mitgenommen und mieden die Fehlerquelle. So legten sie auch die letzten 
Photo-Meter zurück.
Dann sahen sie in der Ferne die unüberwindlichen Potentialwände der 
Radikalfänger-Stadt, dunkle Elektronenwolken bedeckten den bleigrauen 
Himmel. Sie sandten Boten-RNS aus um ihre Forderungen zu überbringen: 
Auslieferung von Melanine und Cystein, Entschädigung für den Überfall. 
Eine Iod-Uhr zeigte die Frist an, die sie den Radikalfängern gaben. Bis 
dahin verbargen sie sich in den zahllosen Zentri-Fugen und 
Mischungslücken. Doch die Boten-RNS brachte bald die Antwort: Ergebt 
euch, dann könnt ihr in der Photozelle bei Kalkmilch und Atomkernen 
weiterleben. Sonst erwartet euch der Wärmetod!
Darauf hatten sie nur gewartet: Solvo-Liese und Dia-Liese hatten sich 
bereits in die Stadt eingeschlichen, verborgen zwischen den 
Wellenpaketen auf einem hochbepackten Analysen-Wagen. Sie sollten von 
innen das Reak-Tor öffnen und den anderen einen Vakuum-Vorstoß 
ermöglichen. In der Dunkelheit nahmen sie all ihren Bis-Mut zusammen. 
Mehrzähnige Liganden bewachten das Tor und waren mit p-Orbitalen 
bewaffnet, doch Elektro-Lieses elektromotorische Kraft ließ sie lautlos 
zerfallen, so daß das Zentralatom nichts merkte. Mit Halb- und 
Wärme-Leitern überwanden sie die Zellwände rund um das Zentrum der 
Radikalfänger. Da wurden sie entdeckt und die galvanischen Batterien 
feuerten aus allen Rohren. Doch nun war die Stunde für Pyro-Liese 
gekommen, die den Oxidationsmitteln der galvanischen Batterien die 
Kräfte entzog. Mit Niels-Bohr-Maschinen entfernten die anderen bereits 
die Ionengitter von den Küvettenfenstern der semipermeablen Wand. In den
 Gängen trafen sie auf die Leibwächter, Ionen der überschweren Elemente,
 die ihre gigantischen d-Orbitale schwangen. Doch Ana-Liese konnte die 
üblen Gesellen mit dem Fällungsmittel niederschlagen.
Überraschend kamen ihnen noch einige Isopren-Einheiten entgegen, jede 
mit einem Helm-Holtz bewaffnet, die aber von Solvo-Liese kurzerhand 
aufgelöst wurden. So kämpften sie sich bis zum Festsaal vor und fanden 
dort die Radikalfänger aufgeregt und zum Letzten entschlossen. Doch 
Glyko-Liese hatte bereits damit begonnen, deren Stärke abzubauen und so 
sanken sie völlig unterzuckert zusammen. Hilflos wurden sie in einen 
Faradayschen Käfig von der Träger-RNS abtransportiert. Als sie die Räume
 durchsuchten, fanden sie in der Schatzkammer große Siedeperlen, bunt 
schimmernde Boraxperlen, goldenen Kronen-Ether und große Mengen 
kostbaren Königswassers.
Einen Citronensäurecyclus später waren sie zurück auf der Erde. Dort 
wurden die Radikalfänger dem Gleich-Richter vorgeführt. Nach Einsatz 
kräftiger Oxidationsmittel gestanden die meisten ihre Lac-Taten, und 
niemand widerstand dem ätzenden Flusssäure-Aufschluss. Cystein und 
Melanine wurden zur Zersetzung in der Ton-Zelle verurteilt, bei den 
anderen erhofft man sich eine Veränderung des Ionencharakters und 
tauschte das bösartige Phos-Gen gegen das Kolla-Gen aus. Und alle 
anwesenden Moleküle und Ionen waren erleichtert, die Radikalfänger 
entsorgt zu haben.
Sal-Peter und seine Töchter wurden von ihren Kons-Tanten und Lewis-Basen
 vor lauter Wiedersehensfreude abgenutscht; Dex-Trines Mega-Hertz machte
 vor lauter Freude einen Quantensprung. Beim anschließenden Festbankett 
bogen sich die Kacheltische unter den Köstlichkeiten: aromatische 
Moleküle waren zu Pyramiden aufgestapelt, knusprige Wägeschweinchen 
kamen aus dem Muffelofen und glänzten goldbraun; in Schliffett gebratene
 Heizpilze dufteten verführerisch und aus dem Bessemer-Kessel dampfte 
es. Das alles wurde mit dem obligaten Anaero-Bier heruntergespült. Zum 
Dessert gab es Lack-Mus, Re-Torten, Filterkuchen, und 
Natriumhydroxid-Plätzchen. Rohköstler fanden lediglich Glüh-Birnen und 
Thomas-Birnen. Überall hingen Silberspiegel, und Spektrallampen 
beleuchteten das bunte Treiben. Sogar der Chromato-Graf war gekommen und
 schillerte in allen Farben. Für Stimmung sorgte die Actiniden-Gruppe, 
die im Loga-Rhythmus rockte, jeder New-Ton und jeder Ace-Ton an der 
richtigen Stelle. Wolfram der Weise und Osram der Erleuchtete trugen 
Tri-Oden und An-Oden zum Lobe der Sieger vor. 
Zwischendurch strömten die Gäste zur Milli-Bar, holten sich einen 
Cuban-Libre, einen Aspara-Gin oder ein edles Königswasser. Labor-Boys 
boten Blindproben aus Saugflaschen an, verteilten Cosi-Nüsse und 
Schlauch-Oliven. Nach diesem Fest am 1. April lebten alle noch viele 
Lichtjahre und erst in hohem Alter erhielten ihre Kristallgitter einige 
Fehlstellen.
 
Autor: Norbert Lüdtke 

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